Die Corona-Krise und die damit verbundenen Schulschließungen haben den lerntherapeutischen Förderbedarf stark ansteigen lassen. Nie war es sinnvoller, Lerntherapie auch in der Schule stattfinden zu lassen. Wir haben mit der Lerntherapeutin Susanne Seyfried über ihre Teilzeittätigkeit an einer Grundschule in Baden-Württemberg gesprochen. Sie setzt sich für mehr Unterstützung von Schülern mit einer Legasthenie und/oder Dyskalkulie ein und für eine Anerkennung von Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten in der Schule.
Christine Falk-Frühbrodt: Früher fand Lerntherapie ähnlich wie Nachhilfe ausschließlich außerschulisch statt. Heute gibt es immer mehr Schulen mit lerntherapeutischen Angeboten. Wie bewerten Sie dies?
Susanne Seyfried: Meiner Meinung nach gibt es noch viel zu wenige Angebote für leserechtschreib- oder rechenschwache Schüler. Es ist Aufgabe der Schulen individuell zu fördern und zu unterstützen. In der Realität ist das aber oft nicht machbar. Manchmal fehlen Lehrkräfte, manchmal auch spezifisches Fachwissen und in den meisten Fällen Förderstunden, die aber dringend nötig wären. Aufgrund des Lehrermangels wird häufig nur der Regelunterricht abgedeckt. Auch ist es von der Region, in der man lebt, abhängig, ob man eine innerschulische Unterstützung für sein Kind bekommt oder nicht.
Christine Falk-Frühbrodt: Als erfahrene Lerntherapeutin sind Sie sicher schon im schulischen Bereich tätig gewesen. Wie sah das konkret aus?
Susanne Seyfried: In der Schule berate ich Lehrer und Eltern zu den Themen LRS und Rechenschwäche, ermittle den Lern- und Leistungsstand des Schülers und gebe Tipps für die innerschulische und ggf. auch außerschulische Förderung in Deutsch und Mathematik. Dabei ist es mir als Lerntherapeutin wichtig zu unterstützen, bevor es „brennt“ also schon da zu helfen, wo sich die ersten Schwierigkeiten zeigen, z.B. beim Mengenverständnis. Wenn ich hier schon frühzeitig unterstützen kann, muss es später gar nicht zu großen Matheschwierigkeiten kommen. Da ich einen Vertrag als Lehrkraft habe, bin ich auch als Fachlehrerin tätig und habe damit manchmal leider nicht die eigentlich erforderlichen Förderstunden zur Verfügung.
Christine Falk-Frühbrodt: Welche Vorteile hat es für Schüler und Schülerinnen mit Lerntherapiebedarf und ihre Lehrer und Lehrerinnen, wenn Lerntherapie in der Schule stattfindet?
Susanne Seyfried: Ich sehe große Vorteile für die Schüler, die Lehrkräfte und auch für die Lerntherapeuten. Man kann in multiprofessionellen Teams zusammenarbeiten, sich austauschen und den Schüler direkt vor Ort unterstützen. Einige Schüler brauchen Förderunterricht und andere eine intensive Begleitung im 1:1-Setting. Da ich in der Schule eng mit den Lehrkräften zusammenarbeite, die Gegebenheiten vor Ort kenne, ist ein Austausch jederzeit möglich. Die Kommunikationswege sind kurz. Auch für Eltern ist es entspannter, wenn die Förderung schon in der Schule stattfindet. Am Nachmittag muss man dann nicht noch zur Lerntherapie fahren und diesen Termin zusätzlich zu den Hobbys und dem Familienalltag managen. Ich persönlich schätze den engen Austausch im Kollegium und kann Tipps direkt vor Ort geben. Gerade in der Grundschule ist es wichtig Basiskompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln. Wird hier nicht frühzeitig gefördert, haben diese Schüler nicht die gleichen Bildungschancen und das obwohl sie normal begabt sind. Einige erleben so ständig Misserfolg, der sich dann auf andere Fächer übertragen kann und sich negativ auf die weitere Schullaufbahn auswirkt. Ohne Förderung und Unterstützungsmöglichkeiten werden große Potenziale verschenkt und diese Kinder aus unserem Schulsystem ausgegrenzt.
Eine frühzeitige Unterstützung und Einbindung von Lerntherapeuten ist enorm wichtig, ein Austausch auf Augenhöhe in einem multiprofessionellen Teams entlastet die Lehrer. Das Ganze ist ein Prozess, der sich entwickeln muss. Ich bin jetzt in meinem dritten Jahr in der Schule und lerne täglich hinzu, wie Schule „tickt“, was funktioniert und was möglicherweise angepasst werden müsste.
Christine Falk-Frühbrodt: Kann Lerntherapie im regulären Unterricht erfolgen oder welcher andere Rahmen ist besser geeignet bzw. erforderlich?
Susanne Seyfried: An der Universität Hamburg werden gerade in einem Pilotprojekt Gelingensbedingungen von Lerntherapie in Schule erforscht. In fünf Hamburger Grundschulen begleiten und unterstützen Lerntherapeuten Schüler/innen mit fünf Stunden pro Woche. Ich bin schon sehr gespannt auf die Ergebnisse. Es wird nicht nur eine perfekte Lösung von Lerntherapie in Schule geben. Dafür sind Schulen zu unterschiedlich. Im regulären Unterricht ist allerdings eine individuelle Lernbegleitung und Förderung nicht möglich. Es braucht dafür ein Setting außerhalb vom regulären Unterricht und nach Möglichkeit auch einen Extraraum, der das Kind nicht an die Schule erinnert, denn einige Schüler haben in der Schule negative Erfahrungen gemacht und brauchen einen anderen Ansatz und ganz viel positive Bestärkung. Wichtig ist es evidenzbasiert zu arbeiten und mittels individuellem Förderplan das Kind zu unterstützen. Das gelingt nur mit mehr Ressourcen und zusätzlicher Unterstützung von Lerntherapeuten in den Schulen.
Christine Falk-Frühbrodt: Kann jede/r Deutschlehrer/in eine Lerntherapie bei LRS durchführen und jede/r Mathelehrer/in eine Lerntherapie bei Rechenschwäche? Welche Qualifikationen sind erforderlich?
Susanne Seyfried: Wichtig ist ein fundiertes Wissen über LRS und Rechenschwäche und eine ausgeprägte diagnostische Kompetenz, um eine strukturierte Lernstandsanalyse durchführen zu können. Dabei werden wichtige Fragen geklärt: Wo muss die individuelle Förderung ansetzen? Was kann das Kind schon? Welche Schritte kommen als nächstes? Wie kann die Förderung in Zusammenarbeit mit den Eltern oder möglicherweise auch externen Partnern begleitet werden? Eine fortlaufende Förderdiagnostik ist wichtig, um die Förderung im Verlauf anzupassen. In einer Lerntherapie wird nicht nur an den Basiskompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen gearbeitet, sondern auch an einer psycho-emotionalen Stabilisierung des Kindes. Daher ist psychologisches Wissen ebenfalls von Bedeutung.
Christine Falk-Frühbrodt: Wer bezahlt Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten, die in Schulen beratend oder therapeutisch tätig sind?
Susanne Seyfried: Das ist ein wichtiges Thema. Leider gibt es hier keine Standards. Jede Schule muss selbst schauen, was finanziell möglich ist. Einige Schulen finanzieren Lerntherapeuten über einen Förderverein, andere haben Mischfinanzierungen aus Förderverein, Jugendamt oder Sponsoren, wie den Lions oder den Rotary Club, manchmal zahlen auch Eltern privat einen Teil der Kosten. Private Schulen haben oft mehr Möglichkeiten und können Lerntherapeuten direkt anstellen.
In meinem Fall bin ich über das Regierungspräsidium als Lehrkraft angestellt. Der große Vorteil liegt darin, dass ich vor Ort bin, die Gegebenheiten kenne und im Kollegium als Lehrkraft integriert bin. Die Eltern müssen somit für meine Unterstützung nichts zahlen. Allerdings kann ich selten 1:1 fördern, wie es vielleicht nötig wäre. Ich kann beraten, den Lern- und Leistungsstand analysieren, Elterngespräche führen und Tipps für die weitere Förderung geben. Manchmal kann ich auch im Einzelsetting fördern. Sobald ich aber im Vertretungsunterricht einspringe, fallen diese Förderstunden weg.
Christine Falk-Frühbrodt: Welchen Erfolg konnten Sie durch eine lerntherapeutische Förderung und eine enge Kooperation mit der Schule erreichen?
Susanne Seyfried: Hier ein Beispiel: Emil kam Ende der 8. Klasse zu mir, die Versetzung war gefährdet, die Schule überfragt, denn mit solch einer ausgeprägten Dyskalkulie hatten sie es noch nie zu tun gehabt. Die Jahre davor konnte Emil mit viel Üben immer gerade so in Mathe durchkommen. Aber nun stand zeitnah der Hauptschulabschluss an und eine Klassenwiederholung wäre für ihn ein Rückschlag gewesen. Emil wollte endlich eine Ausbildung beginnen. Er war motiviert, fleißig und brauchte vor allem jemanden, der an ihn glaubt und ihm Schritt für Schritt im Fach Mathematik Strategien an die Hand gibt. Aussagen wie „Auf deine Rechenschwäche können wir hier nicht Rücksicht nehmen“ haben Emil sehr belastet.
Aufgrund des fehlenden Verständnisses für Emils Matheschwäche hatte ihm die Schule aus purer Verzweiflung ein Mathebuch der dritten Klasse gegeben und ihm aufgetragen, jeden Tag eine Seite darin zu üben. Emil war dieses Mathebuch in seinem Schulranzen unangenehm.
In vielen Gesprächen an der Schule erlebte ich hoch motivierte Lehrkräfte, die dankbar für unseren Austausch waren und nach und nach ein Bewusstsein für Emils Schwierigkeiten entwickelten. Für die Schule war der Umgang mit einer Dyskalkulie in der Abschlussklasse Neuland. Doch Schritt für Schritt konnten Rektor und Lehrkraft nachvollziehen, wie sich jemand fühlt, der jahrelang sein Bestes gibt, viel übt und mathematisch einfach mehr Zeit und individuelle Hilfe benötigt. Ich erklärte, wie ich mit ihm arbeitete und das Mathebuch der 3. Klasse verschwand ganz schnell wieder. Die Schule war sehr dankbar für unsere enge Zusammenarbeit. Ich hatte alle vier bis sechs Wochen Kontakt zur Lehrkraft. Im gemeinsamen Gespräch definierten wir Unterstützungsmaßnahmen, einen individuellen Nachteilsausgleich und Wege, Emil positiv zu stärken. Am Ende schaffte Emil seinen Hauptschulabschluss und war in der Klasse sogar einer der Ersten mit einem Ausbildungsvertrag in der Tasche.
Christine Falk-Frühbrodt: Wo sehen Sie die Zukunft der Lerntherapie – in der Schule oder weiter primär in außerschulischen Institutionen, z.B. Praxen für Lerntherapie?
Susanne Seyfried: Es wird vermutlich immer eine Mischung geben. Wir brauchen weiterhin die außerschulische Lerntherapie, denn manchmal braucht es den räumlichen Abstand. Ich sehe aber ein großes Potenzial von multiprofessionellen Teams an den Schulen.
Ich wünsche mir eine Schullandschaft, in der Lerntherapeuten integriert werden und ein Austausch auf Augenhöhe stattfindet. Schüler mit Leserechtschreib- und Rechenschwierigkeiten brauchen jetzt unsere Hilfe, eine faire Chance in der Schule, viel Verständnis und eine individuelle Förderung. Die Pandemie ist für alle Schüler eine große Belastung. Jedoch ist sie für Schüler, die eine spezielle Förderung benötigen, um ein Vielfaches höher. Mein Anliegen ist eine frühzeitige Etablierung innerschulischer Lerntherapie. „Früh fördern anstatt spät sitzen bleiben“ ist ein Motto, das alle leiten sollte, die für Kinder Verantwortung tragen.
Christine Falk-Frühbrodt: Wir danken Ihnen für Ihr Engagement und das interessante Gespräch.
Kontakt zu Susanne Seyfried: www.lerntherapie-vs.de