Lesen Sie, welche Beratungsgrundsätze in der Elternberatung bei ADS/ADHS gelten und welche Rolle die Eltern dabei einnehmen.
Beratung in Erziehungsfragen findet nicht nur in den über 1000 Erziehungs- und Familienberatungsstellen im gesamten Bundesgebiet statt, sondern ist als niederschwelliges Angebot in zahlreichen anderen Einrichtungen etabliert. Überall wo Kinder beaufsichtigt, beschult oder therapiert werden, entstehen Beratungsanlässe. Kindergärten, Schulen, Horte, Ergo-, Heilpädagogik-, Logopädie- und Lerntherapiepraxen sowie Selbsthilfegruppen bieten Raum für Elternarbeit. Mal bitten Eltern um eine Beratung; mal geht die Initiative zum Gespräch von der Beraterin aus. In diesem Artikel werden beide Ausgangssituationen betrachtet. Die dargestellten Beratungsgrundsätze gelten insbesondere für die Arbeit mit Eltern unaufmerksamer, impulsiver und hyperaktiver Kinder.
Was macht Elternberatung bei ADS/ADHS so besonders?
Die Einbeziehung der engsten Bezugspersonen in die Therapie des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms gilt als zentraler Baustein im Rahmen eines multimodalen Gesamtkonzepts. Eine gute Elternarbeit ist wie eine Brücke, über die in der Therapie erworbene Kompetenzen den Weg in den Alltag finden können. Aufgrund der familiären emotionalen Bindung haben Eltern stets einen größeren Einfluss auf das Denken und Verhalten des Kindes als alle Co-Erziehenden. Erzieher/innen, Lehrer/innen, Psycho-, Ergo- und Lerntherapeutinnen steht immer ein kurzer Zeitraum für die Arbeit mit dem Kind zur Verfügung. Wie viel mehr Inseln könnten angesteuert werden, wenn die Eltern mit im Ruderboot säßen!
Schätzungsweise jedes zweite Kind mit ADS/ADHS hat ein Elternteil, das aufgrund seiner Verhaltensmuster die gleiche Diagnose erhalten könnte. Unaufmerksamkeit, unüberlegtes Handeln, Organisationsprobleme, Desinteresse an monotonen Aufgaben und emotionale Überempfindlichkeit auf Seiten der Mutter oder des Vaters führen häufig dazu, dass diese Eltern dem Ideal der liebevoll-konsequenten Erziehung nicht entsprechen. Wer selbst keine Strukturen kennt, kann diese auch nicht seinen Kindern vermitteln, und wer seine Impulse selten im Griff hat, gibt zum Erziehen unangemessene Lautstärke hinzu, straft oft und versucht im nächsten Moment, mit ganz viel Großzügigkeit alles wieder gut zu machen.
Leuchtturm sein für das Kind
Idealerweise nehmen Mutter und Vater die Rolle eines Leuchtturms ein, der die Kinder durch die von allgegenwärtigen Verfehlungen gesäumte Fahrrinne in den Hafen führt. Sind sich die Eltern in wesentlichen Erziehungsfragen uneins, stellen sie zwei Leuchttürme dar, die den Kindern unterschiedliche Wege weisen. Insbesondere für grenzüberschreitende Kinder, die eindeutige Regeln benötigen, ist dies eine schwierige Situation. Egal wessen Leuchtfeuer sie folgen, stets droht Ungemach. Diese Konstellation liegt besonders häufig in Familien mit einem selbst betroffenen, wenig konsequenten Elternteil vor. Verunsicherung des Kindes und Schwierigkeiten auf der Paarebene, die sich sowohl negativ auf das Erziehungsverhalten als auch auf die innerfamiliäre Atmosphäre auswirken, können die Folgen sein.
Eltern als Experten
Wesentliche Voraussetzung für eine gute Beratung ist gegenseitige Akzeptanz und Bereitschaft zum Austausch auf Augenhöhe. Von einem hohen Ross berät es sich schlecht. Eltern sind Experten in eigener Sache und müssen als solche behandelt werden, sonst kann Beratung leicht zu unerwünschter Belehrung werden. Viele Mütter und Väter, die von sich aus das Gespräch suchen, haben einen langen Weg hinter sich und verfügen über vielerlei Einsichten und Kompetenzen. Eltern kennen ihr Kind besser als jeder andere. Sie wenden sich an uns, um sich auszusprechen, gehört zu werden und Anregungen für den Erziehungsalltag zu erhalten. Dass sich Erziehungsprobleme, die meist auch Beziehungsprobleme sind, nicht mit ein paar locker aus dem Ärmel geschüttelten Tipps im Nu auflösen lassen, wissen die meisten Ratsuchenden. Und wer es nicht weiß, muss es gesagt bekommen, damit falsche Erwartungen gar nicht erst entstehen.
Schnelle Tipps sind gefährlich
Mittel- bis langfristiges Ziel jeder Elternberatung sollte die Hilfe zur Selbsthilfe sein. Wer stets fertige Lösungen präsentiert, fördert ein Abhängigkeitsverhältnis, das dieses Ziel weit in die Ferne rückt. Manche Elternberater/innen sind regelrechte „Erziehungstippmaschinen“, die jede Frage aufnehmen und ohne Zögern eine mehr oder weniger passende Antwort ausspucken. Diese Form der Beratung hilft Eltern nur für den Moment, mitunter jedoch auch gar nicht, weil die genauen Umstände des wahrgenommenen Erziehungsproblems unberücksichtigt bleiben. Stellen Sie sich eine Mutter vor, die sich mit einer typischen „Was mache ich, wenn“-Frage an uns wendet und einen Ratschlag erhält, den sie bereits zur Genüge kennt und immer wieder ohne Erfolg umsetzt. Sicher wird sie nicht das Gefühl haben, bei uns an der richtigen Adresse zu sein.
Mit Fragen zur Lösung führen
Die Gesprächstherapie geht davon aus, dass nicht der Therapeut dem Klienten den Weg weist, sondern ihn im Gespräch zu seiner eigenen Lösung führt. Dieses Modell ist auf die Elternberatung übertragbar. Fassen Sie zunächst die Aussagen der Mutter bzw. des Vaters in eigenen Worten zusammen. Verwenden Sie eine vorsichtige, Widerspruch zulassende Formulierung, z.B. „Die schulischen Probleme Ihres Sohnes scheinen in Ihrer Familie ein zentrales Problem zu sein. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie sich zunächst im Bereich des Lernens Erleichterungen erhoffen und die Geschwisterstreitigkeiten im Moment zweitrangig sind?“. Hier können sich die Eltern verstanden fühlen und zustimmen oder die Situation mit ergänzenden Worten präzisieren.
In einer warmherzigen und respektvollen Beratungsatmosphäre fällt das Reden leichter. Mitunter sind jedoch auch kleine Ermunterungen erforderlich, z.B. wenn es darum geht, eine typische Erziehungsschwierigkeit genau zu schildern, um sie schon im Moment des Beschreibens einer ersten Analyse zu unterziehen. Diese so genannten Türöffner können verbaler Art sein, z.B. „Hm, Hm. Ich verstehe…“, „Möchten Sie mehr darüber erzählen?“ oder auch „Lassen Sie uns gemeinsam schauen, wie es zu diesem Wutanfall gekommen ist. Wie lief das genau ab?“ Hilfreich sind auch nonverbale Zeichen der Empfangsbereitschaft und des Interesses, die sich in Blickkontakt, Kopfnicken und einer zugewandten Körperhaltung äußern können.
Stellen Sie den Eltern folgende Fragen, sofern sie die Antworten nicht bereits von sich aus gegeben haben: Wie sieht das Problemverhalten konkret aus? Seit wann wird es beobachtet? In welchen Situationen verhält sich das Kind so? In welchen zeigt es akzeptables Verhalten? In Gegenwart welcher Personen tritt das Verhalten auf? Wie reagieren die Mutter, der Vater, Geschwisterkinder und ggf. das weitere Umfeld auf dieses Verhalten? Welche Erklärungsansätze gibt es? Mit dieser systematischen Problemanalyse können die auslösenden bzw. verstärkenden Bedingungen und mitunter auch schon erste Lösungsansätze von den Eltern erkannt werden. Um diesen Prozess nicht zu stören, sollten Sie sich in dieser Phase der Beratung mit eigenen Hypothesen und Ratschlägen zurückhalten.
Trüffelschwein sein
Gute Berater/innen sehen ihre Aufgabe nicht darin, Eltern Verfehlungen nachzuweisen und mit ihnen Probleme zu besprechen. Wer erzieht, macht zwangsläufig Fehler. Diese Regel kennt keine Ausnahme. Vielversprechender ist es, Ausnahmen von Problemen, Ressourcen und Lösungen in den Blick zu nehmen. Der Ausbau einer schon vorhandenen Lösung, so klein sie auch sein mag, bietet bessere Chancen auf ein gutes Gefühl bei den Eltern und damit auch auf ein harmonischeres Familienleben. Suchen Sie nach Trüffeln: „Wie haben Sie es bisher geschafft, diese schwierige Situation zu bewältigen?“, „Was oder wer hat Ihnen dabei geholfen?“, „Ich bin beeindruckt, was Sie geschafft haben. Wie machen Sie das?“. Fragen dieser Art stärken das Selbstbewusstsein der Eltern, das nach vielen Jahren der Selbstzweifel oft in einem desolaten Zustand ist. Wenn wir uns konsequent auf Schatzsuche statt Fehlersuche begeben und unsere Anerkennung echt ist, können wir Eltern mit Worten stark machen für die Stürme des Alltags.
Eltern zum Gespräch einladen
Mitunter verspüren mit dem Kind befasste Fachleute angesichts eines aktuellen Ereignisses oder einer Entwicklung das Bedürfnis und die Notwendigkeit zum Austausch mit den Eltern. Das ist nicht selten eine heikle Angelegenheit, weil viele Eltern Schuldzuweisungen gewohnt sind und auch wohlmeinenden Kontaktaufnahmen zunächst kritisch gegenüberstehen. Es ist sehr wichtig, dass beratend Tätige Gespräche dieser Art vorbereiten. Überlegen Sie sich gut, was Ihnen am Kind und seinen Eltern positiv auffällt und teilen Sie zunächst diese Beobachtungen mit. Achten Sie darauf, dass Sie die sich einstellende gute Atmosphäre nicht mit einem nachgestellten Aber zunichte machen: „Bei mir in der Ergotherapie macht Justin was situationsgerechtes Verhalten angeht große Fortschritte, aber zu Hause scheint es noch immer an Strukturen zu fehlen“. Besser wäre: „Bei mir in der Ergotherapie macht Justin was situationsgerechtes Verhalten angeht große Fortschritte. Wie ist es bei Ihnen zu Hause?“.
Probleme lösen, wo sie entstehen
Wenn Sie sich als Erzieher/in oder Lehrer/in eines Kindes mit ADS/ADHS an die Eltern wenden, sollten Sie stets daran denken, dass sich diese Kinder in der Gruppe anders verhalten als im Einzelsetting. Es ist gut möglich, dass die Mutter oder der Vater zu Hause weit weniger Konflikte wahrnehmen. Das hat weder mit Schönfärberei auf Seiten der Eltern noch mit mangelnder Professionalität auf Ihrer Seite zu tun. Es bringt auch nichts, die Eltern zu Ermahnungen oder gar Bestrafungen des Kindes anzuhalten. In Gruppendynamiken begründete Schwierigkeiten sind stets eine Herausforderung für die Gruppenleitung. Ein Weiterreichen des Problems an das Elternhaus ist nicht möglich, wohl aber könnten sich Eltern angesichts einer Vielzahl von Klagen dazu gedrängt fühlen, den Druck auf das Kind zu erhöhen. Das kann zu einer Verschlechterung der Eltern-Kind-Beziehung führen.
Im Konkreten bleiben
In Gesprächen mit Eltern sollten Probleme stets anhand konkreter Beispiele möglichst unaufgeregt verdeutlicht werden. Die Aussage „Ihr Sohn ist unglaublich aggressiv und das nicht erst seit gestern“ weckt mütterliche und väterliche Schutzinstinkte. Schnell nimmt das Gespräch eine emotionale Färbung an, die einem echten Austausch im Wege steht. Besser ist es, eine Beobachtung zu schildern und dabei klar zwischen dem Verhalten des Kindes und seiner Person zu unterscheiden: „Ich sehe gelegentlich, dass Ihr Sohn die Bausteintürme anderer Kinder umstößt und dass er kneift. Heute Morgen hat er das bei Hanna gemacht, nachdem sie ihm deutlich gesagt hat, dass er nicht mitspielen darf. Das macht mich traurig, weil ich weiß, wie sehr sich Kevin Freunde wünscht. Kennen Sie dieses Verhalten aus anderen Situationen? Was meinen Sie als Mutter, was Kevin in diesen Momenten braucht?“. Diese vorwurfsfreie Haltung und der Verzicht auf Verallgemeinerungen ermöglichen ein gemeinsames Arbeiten an für Kevin gangbaren Wegen.
Patentrezepte? – Die gibt es nicht!
Beratungsgespräche sollen aufbauen und Kraft für die nächsten Schritte geben. Hilfreich ist das Erinnern an Erfolge, überstandene Krisen und vorhandene Ressourcen. Tipps sollten sehr zurückhaltend und wenn, dann erst ganz am Ende einer gemeinsamen Situationsanalyse gegeben werden. Denken Sie daran, dass es auch in der Erziehung von Kindern mit ADS/ADHS keine Patentlösungen gibt. Stets sollten Eltern aus einer Reihe von möglichen Handlungsalternativen die für sie und ihr Kind stimmigste Strategie selbst auswählen. Dazu bedarf es einer Beraterin, die viele Wege zum Ziel kennt und der Versuchung widersteht, ihre Ansichten und Ideen für die Eltern verbindlich zu machen.
Eine konsequente Orientierung an den Werten und Möglichkeiten der nicht selten selbst betroffenen Eltern ist die beste Grundlage für eine gelingende Elternarbeit. Raten Sie nicht zu einem Punkteplan, wenn Sie wissen, dass die Mutter selbst Schwierigkeiten mit dem Einhalten von Vereinbarungen hat. Dann braucht sie etwas, das weniger anspruchsvoll in der Umsetzung ist. Schlagen Sie Eltern auch nicht vor, ein stark erregtes Kind gegen seinen Willen in sein Zimmer zu sperren. Diese Form der Auszeit kann eine verfahrene Situation erst recht zur Eskalation führen, wenn die Eltern ihre Impulse nicht unter Kontrolle haben. Dann ist es besser, selbst das Feld zu räumen und erst einmal zur Ruhe zu kommen.
Eltern geben ihr Bestes
Gehen Sie stets davon aus, dass Eltern ihr Bestmögliches geben. Wenn sie es besser könnten, würden sie es besser machen. Unaufmerksame, impulsive und hyperaktive Kinder haben besondere Erziehungsbedürfnisse, die viele Erwachsene an Grenzen führen, nicht nur die Eltern. Schauen Sie auf die Stärken der Eltern und helfen sie ihnen, diese auszubauen. Das Motto sollte lauten: „Mach mehr von dem, was du gut kannst, dann hast du weniger Zeit für das Negative.“ Schon kleine Veränderungen in der Sichtweise oder im Verhalten der Eltern können Großes nach sich ziehen, weil die davon ausgehenden Impulse Dynamik in das System Familie bringen. Das kann z.B. der Auftrag sein, systematisch nach erwünschten Verhaltensweisen zu suchen und das Kind dafür zu belohnen. Das leidige Schimpfen und Strafen reduziert sich dadurch fast von ganz allein.
So werden Sie Elternberater/in
Im Fernlehrgang „Elternberater/in bei ADS/ADHS“ lernen Sie das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS/ADHS) kennen und erhalten unser Beratungskonzept, das auf Gesprächsführungstechniken und Ansätzen aus der lösungsorientierten Kurzzeittherapie basiert.